Wolfgang Kaup-Wellfonder | 28. Oktober 2012

Brüder im Geiste

Dieter Kieselstein

Dieter Kieselstein † 1. September 2012

Dorothee Wellfonder und ich übernahmen neben dem Vorsitzenden Dieter Kieselstein, selbst langjähriger Geschäftsführer, Ende der Achtziger die Geschäftsführung des Verbandes Deutscher Puppentheater (VDP), und Ende der Neunziger des vergangenen Jahrhunderts wurde ich an seiner Stelle Vertreter der darstellenden Kunst Figurentheater im Fonds Darstellende Künste. Die gute Zusammenarbeit hatte ihre Gründe.

Als wir Anfang der Achtziger als Berufsanfänger in den VDP eintraten, zeigten sich viele KollegInnen irritiert. Da kamen zwei mit abgeschlossenem pädagogischen Studium in einen Berufsverband, der in den bis dahin sechzehn Jahren seines Bestehens jede Menge damit zu tun hatte, sehr viele Individualisten mit allen möglichen beruflichen Hintergründen zusammen zu bringen, von denen nicht so viele auf einen akademischen Grad zurückschauen konnten. Dieter, selbst ja mal Schlosser gewesen, machte das nichts aus. Er kam offen und sehr freundlich auf uns zu und machte uns glauben, dass er sich sehr über unser Erscheinen freute. Das tat gut!

Gisela und Dieter Kieselstein im Gespräch mit Heike Klockmeier

Gisela und Dieter Kieselstein im Gespräch mit Heike Klockmeier

Im Rahmen der oft turbulenten Mitgliederversammlungen lernten wir Dieter immer wieder als ausgleichend und genau argumentierend kennen. Bei unseren Gesprächen nach den Versammlungen merkten wir, dass er die Existenz eines Verbandes für die deutschen Puppentheater wichtig fand, weil seine tiefe Überzeugung war, dass man alleine nichts, solidarisch aber vieles erreichen kann. Nicht nur im Binnenverhältnis der KollegInnen, sondern und vor allem auch im kulturellen Leben der Bundesrepublik. Genau das war der Grund, warum wir in den VDP eingetreten waren. Die darstellende Kunst Figurentheater benötigt eine Vereinigung, die Interessen der Kunstsparte vertritt und Innovation anstößt, wann immer möglich.

Als Dr. Jürgen-Dieter Waidelich, Bundesgeschäftsführer des Bundesverbandes der deutschen Volksbühnenvereine e. V., Berlin, Dieter 1984 fragte, ob er und der VDP sich vorstellen könnten, Gründungsmitglied eines Vereines zu sein, der finanzielle Produktionshilfen an freie Theater und Tanzschaffende vergibt, die von der Bundesregierung zur Verfügung gestellt werden, sagte er gerne zu. So wurde am 15. Januar 1985 in der damaligen Bundeshauptstadt Bonn der Fonds Darstellende Künste e. V. gegründet. Neben den schon genannten beiden Bundesverbänden waren der Bundesverband Spiel – Theater – Animation, Berlin, der Bund der Theatergemeinden e. V., Bonn, der Bundesverband der Bibliotheken und Museen für darstellende Künste e. V., Düsseldorf, die Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger, Hamburg, und der Interessenverband deutscher Schauspieler e. V., München, Gründungsmitglieder.

Inzwischen bilden vierzehn Verbände der Theater- und Tanzszene den Fonds Darstellende Künste, der seit seiner Gründung 11 Millionen Euro an ca. 2.400 Projekte in über 300 Kommunen vergeben hat. Dieter entschied als Kuratoriumsmitglied 11 Jahre mit den Vertretern der anderen Verbände. 1996 schlug er mich der Mitgliederversammlung des Fonds Darstellende Künste für das Kuratorium vor, dem ich ebenfalls 11 Jahre angehörte. Seit 2007 bin ich stellvertretender Vorsitzender des Fonds Darstellende Künste, was Dieter sehr begrüßte. Ein Puppenspieler ist würdig, in den Vorstand eines solchen „Bundesvereins“ gewählt zu werden. Das war zu Beginn seiner Figurenspielerlaufbahn undenkbar! Die Zeiten hatten sich geändert. Durch den VDP, durch Dieters Engagement!

Als Dorothee und ich uns 1988 bereit erklärten, mit Dieter als Vorsitzenden und Kassenchef Bernhard Wöller (Optical Figurenbühne, Stuttgart) drei Jahre den Vorstand zu bilden, bezeichnete man unser Engagement als Umbruch zur Verjüngung des VDP. Sicherlich waren wir auch Notlösung in Ermangelung von Alternativen. Dieter war viele Jahre Geschäftsführer des VDP gewesen und hatte ihn nach innen und außen stabilisiert. Seine Bereitschaft, auch als Vorsitzender zu wirken, entsprang einer großen Führungskrise. Seine Einwilligung, den Vorsitz zu übernehmen, ging mit der Forderung einher, den VDP zu verjüngen und neue Impulse zu geben. Dorothee und ich führten nicht nur den monatlichen Rundbrief, den Dieter eingeführt hatte, fort, wir haben uns im ersten Jahr häufig getroffen, und es gab zusätzliche Rundbriefe für den Vorstand. Es war noch die Zeit ohne Mails und PC im Büro! Wenigstens sind Wattenscheid und Mülheim an der Ruhr nicht so weit auseinander. Bernhard hatte etwas Pech, war aber häufig genug auf Tour.

Bei den vielen Treffen und Telefonaten merkten wir sehr schnell, dass Dieter, Dorothee und ich in vielen Punkten überein stimmten. Mit Bernhard gerieten wir häufiger aneinander, konnten Unstimmigkeiten aber immer wieder klären. Es war eine fruchtbare Zeit für den VDP und für die beiden Jungen. Wir malochten in einem Ausmaß für den Verein, welches ich mir heute nicht mehr erklären kann. Dieter und auch seine liebe Frau Gisela wussten uns immer wieder zu motivieren. Sie machten das pädagogisch perfekt, und man merkte, dass sie Eltern dreier Kinder waren. Sie hätten unsere Eltern sein können. Dieter entstammt demselben Jahr wie Doros Vater und meine Eltern. Dieter und Gisela schafften die Gratwanderung, uns manchmal einerseits elterlich, aber dann auch kollegial zu begegnen. Sie freuten sich über unsere Schwangerschaft und die Geburt unseres Sohnes Hannes, besuchten unsere Hochzeitsfeier (den Schnellkochtopf nutze ich noch heute und denke jedes Mal an die beiden) und einige unserer Premieren. Immer wieder gastierten sie im Rahmen von Mülheimer Puppentheaterwochen, ganz besonders gerne sahen wir die „Szenen mit Marionetten“.

30 Jahre lagen zwischen uns. Das ist eine Generation. Dieters runde Geburtstage besuchten wir immer, die dazwischen selten, telefonierten aber miteinander. Zum letzten Geburtstag sprach ich länger mit ihm über seine Leidenzeit, aber auch darüber, dass ich ihn um seinen hellen Geist beneidete.

In den letzten Jahren war die große Verletzung, die ihm seine Heimatstadt Bochum zugefügt hatte, indem man zwar ein Deutsches Institut für Puppenspiel (damals DIP) oder jetzt „Deutsches Forum für Figurentheater und Puppenspielkunst“ finanziert, dem Puppentheater Kieselstein aber keinerlei finanzielle Unterstützung gewährt hatte, nicht mehr so oft Thema. Sein überregionaler Erfolg mit dem „Li-La-Launebär“ hatte ihm nicht nur viele schöne Jahre mit seinem Katamaran in Holland ermöglicht, er hatte ihn als Künstler bestätigt und damit beruhigt. Ja, Dieter war Figurenbauer und –spieler, er war ein großer unseres Metiers. Auch ohne Subventionen, allein durch seine Arbeitskraft und die seiner Frau Gisela wurde das Lebenswerk geschaffen.

Dieser Künstler schlief vielleicht manchmal schlecht, weil er nicht wusste, ob die Aufträge für den Lebensunterhalt der fünfköpfigen Familie ausreichten, er musste sich aber nie sorgen, ob er noch der Gunst von Verwaltern staatlicher Gelder entsprach. „Kriegst Du nichts, musst Du Dir auch keine Sorgen machen, weil sie dir nichts mehr geben“, sagte er und hatte Recht, wenngleich ich anfangs skeptisch war. Heute sehe ich es genau so. Wieder: Brüder im Geiste.

Dieter, wir werden dich vermissen, aber ich weiß, dass Du nicht unzufrieden gegangen bist. Du hast Dein Leben geliebt und gerne angenommen. So wie es war. Du bist mir ein Vorbild und ich bin froh, Dich gekannt zu haben.