Benno Kieselstein | 1. Oktober 2012
Wie alles anfing
Wie alles wirklich anfing
Omma und Oppa hatten eine Doppelhaushälfte mit riesigem Garten. Eines Tages stand in Oppas Garten ein mehr als mannshohes Gerüst, ringsum mit verschiedenen Decken behängt. Oben war eine Öffnung gelassen, die ging über die ganze Breite und war etwa einen halben Meter hoch. Durch diese Öffnung sah man in die Tiefe des Gerüsts. Darin war genügend Platz für einen Erwachsenen. Der zog sich Handpuppen auf und hielt die Arme hoch, dann sah man die Figuren in der Öffnung. Die erste Figur sang ein drolliges Liedchen und fragte uns, die Kinder, ob wir alle da seien.
Es war ein Sommertag in meiner Kindheit, und obwohl es von diesem Ereignis keinerlei Aufzeichnungen gibt, bin ich sicher, ich habe das nicht geträumt. Ich hatte die Aufgabe, die Nachbarskinder zusammenzutrommeln mit der Ankündigung: Kasperletheater! Der Erwachsene in dem Gerüst war mein Vater. Das weiß ich gewiss. Dass er mit den Figuren spielte, deren Köpfe ich heute noch besitze, halte ich für sehr wahrscheinlich. Über das Stück kann ich gar nichts mehr sagen. Den oben beschriebenen Auftritt des Kaspers habe ich erfunden. Den improvisierten Eindruck der Bühne hingegen nicht.
Wie alles ganz wirklich anfing
Die Guckkastenbühne in Oppas Garten war aber nicht der wirkliche Anfang. Diesem Auftritt muss einiges an Vorbereitung vorausgegangen sein. Mein Vater hatte die Köpfe der Figuren geschnitzt, meine Mutter hatte die Gewänder genäht. Wahrscheinlich hat er das Stück ersonnen und die Aufführung geprobt. Ich kann mich jedoch an nichts erinnern, außer an den Schraubstock, und wie er das Krokodil darin schnitzte. Den Schraubstock gibt es nämlich auf Super 8. Den hatte mein Vater selbst hergestellt, glaube ich, ganz seine Handschrift. Den schraubte er an den Küchentisch wie ich meine kleine Vorrichtung für die Laubsägearbeiten.
Fritzerbatbross
Durch das Deutsche Institut für Puppenspiel kamen zwei Wörter in meinen Wortschatz: ‘Institut’ und ‘Seminar’. Ein Institut ist etwas, das veranstaltet Seminare. Ein Seminar ist etwas, da lernen Eltern das Puppenspiel. Manchmal durften auch Kinder das Seminar besuchen. Dann war meistens Sonntag und schönes Wetter, und in dem Seminar traf man den Vater und außer ihm einige interessante Erwachsene mit freundlichem Gehabe und leuchtenden Gesichtern.
In der Zeit danach sahen die Figuren, die der Vater baute, ziemlich anders aus. Sie bestanden weiterhin aus Kopf, der auf einen Finger gesteckt wurde, und Gewand, das den Arm verhüllte. Doch die Köpfe waren größer geworden, flächiger, mit weniger Details, und wirkten irgendwie moderner. Das erkannte sogar ein Drekäsehoch. Die überproportional großen Augen waren monochrome Flächen, die in einem bestimmten Winkel im Gesicht standen, so dass sie mit der Neigung des Kopfes scheinbar schmaler wurden, wie wenn das Lid sich senkt, wenn der Blick nach unten fällt. Glanz kam durch polierte Plexiglasscheibchen ins Auge, stechender Blick entstand durch glitzernde Metallkügelchen. Verursacher dieses Aufsehen erregenden Wandels war ein Lehrer namens Fritzerbatbross, kurz: Der Bross. Der war gut. Der war wichtig.
Stabfiguren
Noch später saß der Figurenkopf über einem Gerippe, das aus Holz- und Metallteilen gebaut war und Hals und Schulter und Arme der Figur darstellte. An den Armen geschnitzte Hände. Unterhalb des Kopfes eine Art Pistolengriff für die Hand des Spielers, und an der Stelle des Abzugs eine Kugel, die über eine Stange mit dem Kopf verbunden war.
Marionetten
Beim Bross lernte man auch Marionettenbau. Wie die sich bewegten! So mit präziser Grazie. Warum die alle so ein riesen Ding zwischen den Beinen trugen, wollte mir nicht recht einleuchten. Der Schwerpunkt war tiefergelegt. Aber dass der Aktionsradius ihrer Gelenke genau der menschlichen Anatomie nachgebaut werden musste, war klar. In stillen Stunden, wenn ich eigentlich Schularbeiten hätte machen sollen, gymnastizierte ich manche Marionette, von denen immer einige im Wohnzimmer hingen. Der Ellenbogen, das Knie, das Hüftgelenk: alles genau wie bei mir. Fritzerbatbross. Wow! Von da ab war ich verloren, denn ich hatte für das drollige Gezappel der Augsburger Puppenkiste nur noch Verachtung übrig.
Werkstatt
Da wir eine kinderreiche Familie waren, hatten wir die zweite Wohnung auf der gleichen Etage gemietet und zwischen den Wohnungen einen Durchgang geschaffen. In unserem zweiten Badezimmer war die gesamte sanitäre Einrichtung entfernt worden. Statt der Badewanne stand da auf schweren Holzbohlen eine kleine Drehbank, vom Vater selbst hergestellt. Am kurzen Ende, unterm Fenster, die Werkbank. Ein grob gehobelter Arzneischrank, auf der Tür das Bild eines Mädchens, dem eine dicke Träne über das Gesicht kullert. Wandtafel mit Skizzen und Notizen. Biegewelle. Holzbrettchen, auf denen Fräsen und Schleifmittel wie futuristische Ständerpilze sprießen. Und alles wechselnd bedeckt mit den scharfkantigen Locken von verschiedenen Metallen, den Bröseln des Schaumstoffs, oder mit wohlriechenden Holzspänen.
Werkstattstunden
Kam der Vater vom Hauptberuf am frühen Nachmittag nach Hause, schlief er nach dem Essen eine Runde auf der harten Eckbank, graue Norwegersocken an den Füßen.
Wenn er später in die Werkstatt ging, gesellte ich mich gerne dazu. Er arbeitete ruhig, zielstrebig und schweigend. Ich stand dabei und schaute schweigend. Das meiste erschloss sich ohne Worte: wie man etwas einspannte, mit welchem Werkzeug etwas glatt wurde und mit welchem rund. Wie die verschiedenen Sorten von Gewinden entstehen: das der Schraube und das der Mutter, die darauf passt. Wenn ich etwas nicht verstand, fragte ich, und der Vater demonstrierte und erklärte es mir.
Für mich wurde es Zeit für’s Bett, ich verließ die Werkstatt, der Vater aber machte weiter. Habe ich jemals ein Hämmern gehört? Das Kreischen einer Holzbohle unter der Säge? Ich entsinne mich nicht. Die Nachbarn hingegen fühlten sich von den abendlichen Geräuschen aus der väterlichen Werkstatt durchaus gestört.
Wohnzimmersperre
Es wurde Herbst, und das Wohnzimmer war für Kinder gesperrt. Da nahm jetzt ein Gestell den ganzen Raum ein, das bestand aus Rahmen, die untereinander mit Scharnieren verbunden waren. Daran hatte der Vater lange getüftelt. Zusammengeklappt passte es in einen VW-Bus, und aufgeklappt war es die Bühne. Irgendwann würde mit Druckknöpfen eine große Plane ringsum befestigt, so dass die Eltern nicht zu sehen wären. Sie entwickelten das Stück und übten es zugleich. Immer hinter verschlossener Tür. Trotzdem kriegte man bisweilen Dialoge mit wie diesen:
Vater: Nein, doch nicht von rechts! Sie kommt von links. Mutter: Wieso? Wir hatten doch gerade gesagt: von rechts. Vater: Ja, aber wenn er hier steht und sie kommt von rechts, dann sieht sie ihn doch sofort. Mutter: Drum lass ich sie ja in die Luft kucken, damit sie ihn nicht sieht. Vater: Aber sie könnte ihn sehen. Kommt sie aber von rechts, ist der Baum dazwischen. Dann ist das viel glaubwürdiger, dass sie ihn dann nicht sieht.
Puppentheateraufführungskinder
Wenn nach einigen Wochen alles glaubwürdig war und endlich feststand, wer von von wo kam, dann waren die Kinder das Testpublikum. Wir hatten die Aufgabe, unbefangen zu sein und ganz natürlich zu reagieren, gerade so, wie Kinder in einer Puppentheateraufführung reagieren würden. Die Bühne war immer noch nicht verhängt und gab den Blick frei auf die eigenen Eltern. Manchmal spielte der eine die Figur, und der andere sprach sie. Manchmal ging was schief und die Eltern zischten einander an oder machten hektische Zeichen. Bisweilen brachen sie eine Szene ab und spielten sie ab dem Auftritt der Großmutter nochmal von vorne. Es fiel mir nicht leicht ein unbefangenes Puppentheateraufführungskind zu sein. Ich glaube, wir haben das nur dargestellt, nach bestem Empfinden und Gewissen.
Frühe Selbständigkeit
In Adventszeit hatten die Eltern täglich mindestens einen Auftritt. Da spielten sie das neue Stück, meist in einem Einkaufszentrum oder im Rahmen einer betrieblichen Jahresabschlussfeier. Dann brachten sie tütenweise Nüsse, Marzipankartoffeln, Spekulatius und leider auch Orangen mit nach Hause. Einmal wurden sie vom Auftraggeber abgeholt, einmal fuhren sie mit dem Taxi. Das war in der ganz frühen Zeit. Auf Dauer kein professioneller Zustand! Über den Schwagersbruder wurde ein gebrauchter VW-Bus gekauft, der hatte vorne eine geteilte Windschutzscheibe.
Süßer Die Glocken
Während der Weihnachtsferien fuhr ich gelegentlich mit den Eltern zu einem Auftritt. Schweigend absolvierten wir die Fahrt in dem brüllenden Wagen. Inzwischen war ich eingearbeitet und wusste ohne Ansage, was zu tun war. Den Aufbau kannte ich aus dem Effeff.
Das Stück auch. Während die Eltern spielten, trieb ich mich irgendwo herum. In meiner Jugend kannte ich mehr Einkaufzentren und Fußgängerzonen als die meisten anderen meines Jahrganges.
Irgendwo war einmal ein weißes Tuch über dem Podest ausgebreitet, auf das wir die Bühne stellen sollten, das glitzerte so zart wie frischer Neuschnee — wunderbar! Stille Nacht heilige Nacht.