Dieter Kieselstein | ca. 2010
Nie geküsst
Ein Leben von, mit und zwischen Puppen-Bau und Puppen-Spiel. Was heißt das?
Bevor ich versuche dazu eine Antwort zu finden, gestatten Sie mir bitte, dass ich Goethe zitiere: »Wer die Tradition des Puppenspiels erhält und vertieft, erwirbt sich ein Verdienst um das heranwachsende Geschlecht, das gar nicht abzuschätzen ist.«
Und so möchte ich mich für diesen geheimen Rat beim Herrn Geheimrat bedanken, und ihm sagen, dass wir daran arbeiten.
Im Lauf der Jahre wurden uns viele Fragen gestellt. Man stellt gern originelle Fragen. Andere Leute möchten auch originell sein. So kommt es, dass immer die gleichen originellen Fragen gestellt werden. Zum Beispiel:
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Sie sind Puppenspieler. Kann man denn davon leben? Meine gängige Antwort war: »Nein, wir leben von Rücklagen. Honorare legen wir an.«
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Welches ist ihre wichtigste oder wertvollste Figur? Antw.: »Immer die Figur, die ich gerade spiele.«
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Lieben sie Ihre Puppen? Antw.: »Lieben? — Nun, ich habe sie nie geküsst«
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Sind sie vorwiegend Puppenspieler oder Puppenbauer? Antw.: »Oh, jetzt wird es schwierig! Ja, was bin ich in denn? Puppenbauer oder Puppenspieler? Sicher ist: in der Öffentlichkeit erscheine ich nicht als Puppen-Bauer. Dort erkennt man mich nur als Puppen-Spieler.«
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Wie wurden sie zum Puppenspieler? Antw.: »Ich hatte schon immer Lust zur Darstellung, besser gesagt: zur Selbstdarstellung. Ich liebte die Klamotte. Mit dem Lehrmeister gab es manchmal Ärger, wenn er mich dabei erwischte, dass ich ihn nachäffte. Der Hang zum Komödianten war also vorhanden.«
Meine Frau Gisela machte mich mit dem Puppentheater bekannt. Sie hat mich infiziert, und damit fing dann alles an. Ich lernte und erkannte, Puppen-Theater ist totales Theater. Eine Scheinwelt! Alles ist künstlich! Alles wird der Dramaturgie angepasst und unter geordnet, wird für die Inszenierung erschaffen, sogar die Darsteller. Die Puppen.
Die Theater-Puppe ist leblose Materie, die durch den Spieler bewegt und somit belebt wird. Tote Gegenstände zu beleben, ihnen eine Stimme zu geben und das eigene Ich hinein zu legen, das ist das Wesentliche beim Puppenspiel.
Die Puppe erhält von mir meinen Gang, es ist aber auch ihr Gang. Sie hat meine Stimme, aber es ist auch ihre Stimme, ich spiele die Puppe, und die Puppe animiert mich.
Wenn ich einen Hund über die Bühne laufen lasse, er schnüffelt, er stutzt, plötzlich schaut er Sie an, dann bin ich der Hund, und er ist ich. Und wenn Sie sich ertappt oder berührt fühlen, habe ich Sie berührt, aber es war der Hund. Er hat die Assoziation bei Ihnen ausgelöst, Sie haben sich der Imagination hingegeben und die Szene vollendet.
Mit der vertrauten Puppe einen lustvollen Dialog zu führen, lässt mich manchmal sogar die Zuschauer vergessen. Die Rollen kann man vereinfacht, verfremdet oder überzogen spielen, sie können realistisch oder fantastisch angelegt werden. Wie auch immer. Doch immer trägt mich die Charakteristik der Puppe, sie animiert mich und hilft mir bei der Interpretation der Rolle.
Die Puppe bleibt immer in der Rolle, die man ihr auf den Kopf zugeschnitzt hat. Sie spielt diese Rolle nicht nur, sie ist die bildhafte Darstellung der Rolle. Deshalb sind Tiere und Fabelwesen auf einer Puppen-Bühne keine Fremdkörper. Auch die Dekoration kann belebt werden, kann mitspielen. Alle Teile fügen sich organisch in die Theater-Handlung ein.
Das Puppen-Theater ist ein Spiel mit Metaphern, mit Symbolen, alles ist künstlich, unwirklich, abstrakt. Es weckt im Zuschauer Emotionen, und es regt seine Phantasie an. Wenn der Zuschauer das Unwirkliche vergisst, dann ist er echt kreativ, dann spielt er wirklich mit und wird aktiver Teilnehmer am Spiel. Das gelingt nur dem Puppen-Spieler.
So weit, so gut. Jedoch, das Puppentheater ist die Kunstform, in der sich darstellende Kunst und bildende Kunst in idealer Weise zu einer gemeinsamen Kunstgattung vereinen. Figur und Spiel beeinflussen einander, ergänzen sich gegenseitig und bilden eine geschlossene Einheit. Deshalb gehören für mich Puppen-Spiel und Puppen-Bau zusammen.
Bauen ist nicht basteln, Bauen ist Handwerk, und wer Theater-Puppen herstellt, sollte sich an Goethe erinnern, er sagt: »Allem Leben, allem Streben, aller Kunst muss das Handwerk vorangehen.«
Als gelernter Handwerker und als bekennender Selbermacher konnte ich der Versuchung nicht widerstehen, ich musste einfach meine bildhauerischen Fähigkeiten erproben. Das Wesentliche zu verdichten, es deutlich zu machen und als Metapher vorzustellen, ist die erste Kommunikation mit der entstehenden Figur. Durch Schnitt und Linienführung ist der Charakter der Puppe für die bestimmte Rolle herauszuarbeiten. Die Puppe muss aus der Entfernung noch klar erkennbar sein, Licht und Schatten sollen eine Mimik erzeugen. Theaterpuppen sind Skulpturen. Die Gestaltung von Theaterfiguren ist eindeutig das Werk des Bildhauers. Verschiedene Materialien, Holz, Stoff, Pappe, Schaumstoff, sowie die speziellen Arbeitstechniken erzeugen unterschiedliche Ergebnisse.
Ich habe Puppen realistisch gestaltet, einige hatten eine naive Ausstrahlung, andere sind so abstrakt geformt, dass sie klar und nüchtern wirken. Aus meiner Werkstatt kommen: Hand- und Stab- und Mimik-Puppen, und deren Mischformen, Klappmaul- und Großfiguren, und Marionetten. Diese Vielfalt und die freie Gestaltung macht mir das Puppen-Bauen interessant, so lebendig, so wichtig, so aufregend, so liebenswert und so bunt.
Aber was ist mir wichtiger? Bau oder Spiel, das ist die Frage. Ich weiß es nicht! Schlag nach bei Goethe: »Da steh’ ich nun, ich armer Tor, und bin so klug, als wie zuvor.«
Aber wenn Sie, verehrte Leser, verehrtes Publikum, wenn Sie in einer Vorstellung sitzen, wenn das Spiel Ihre Fantasie beflügelt, oder wenn Sie durch die Puppe berührt werden, und wenn in Ihnen etwas zum Klingen kommt, dann, ja dann können sie vielleicht nachempfinden und erkennen was mir wichtiger ist: Puppen-Bau oder Puppen-Spiel.
Doch eines noch zum Schluss, ich lebe mit und von meinen Puppen, ich arbeite an ihnen und mit ihnen, ich pflege und umsorge sie und ich schätze und behüte sie.
Aber — ich habe sie nie geküsst!
Ich danke Ihnen für ihr Interesse, und ich wünsche Ihnen weiterhin viel vergnügliche Freude beim Puppen-Spiel.