Gila Kieselstein | 23. September 2012

Sie machten Kinder stark

Heiter, lebendig mit den Kindern im Dialog gemeinsam die Lösung findend, so habe ich die Protagonisten der Kinderstücke meiner Eltern erlebt. Der Vater, nach seinem pädagogischen Ziel gefragt, antwortete damals, er wolle den Kindern Freude bereiten, sie nicht mit gehobenem Zeigefinger belehren. Die Kinder sollten mit den Protagonisten einen Weg gehen und während des Stücks erfahren, dass die Welt differenzierter ist. So wie bei »Tiger Ignaz und der Heuler«, wo der Umgang mit Vorurteilen als roter Faden des Stücks sichtbar wird. Ende gut – alles gut.

Anders bei »Karin« – dem Puppenspiel für Kinder, das selten erwähnt wurde, über das die Eltern wenig sprachen. »Karin« war ein Puppenspiel zur Vorbeugung gegen Verbrechen an Kindern. Die Inszenierung erfolgt mit Beratung einer Kriminalpsychologin und dem Amt für Jugendschutz der Stadt Bochum-Wattenscheid in den 1970er Jahren. Ein Puppenspiel ohne Happy End.

Die Story

Das Stück beginnt lustig und fröhlich, und die Kinder sollen anfangs nicht merken, dass es ein Böser-Onkel-Spiel ist. Der Täter ist kein Fremder, sondern ein freundlicher, bekannter Nachbar, Herr Moll. Sein Lockmittel sind junge Kätzchen, die das Mädchen Karin in seiner Wohnung streicheln darf. Er bedrängt das Mädchen nicht, sondern lockt es, indem er die Erfüllung eines Wunsches in Aussicht stellt. Er triggert beim Kind geschickt die kindliche Sehnsucht nach Großsein, Mut, Unabhängigkeit. Verführung geschieht ohne Gewalt. So geht das Mädchen schließlich mit dem Nachbarn in dessen Wohnung, ohne vorher die Mutter gefragt zu haben. Während Herr Moll draußen sehr freundlich war, wird er in der Wohnung – für die Kinder nicht sichtbar, sondern nur akustisch wahrnehmbar – laut und unfreundlich. Das Mädchen ist dem Täter in seiner Wohnung ausgeliefert. Die Kinder hören nur, wie Karin ihren Verführer anfleht, »bitte nicht …« sowie ihre Hilferufe. Niemand hilft ihr. Auch der Kasper ist nicht da. Was der Nachbar mit Karin schließlich gemacht hat, was genau passiert ist, wird nicht gesagt. Am Ende wissen die Zuschauer nur, dass etwas Schreckliches passiert ist, das Mädchen Karin wird auf einer Bahre hinausgetragen. Die Frage, was Karin widerfahren ist, bleibt insofern offen, als dass der Kasper den Kindern  lediglich mitteilt, dass er Karin im Krankenhaus besuchen wird.

Beklemmende Stimmung im Publikum. Erschrockene fragende Kindergesichter.

Das Ende der Geschichte ist nicht das Ende der Aufführung: Die beklemmende  Situation wurde von den Eltern aufgehoben, indem Mutter (Spielerin der Karin) hinter der Bühne hervortrat und dem Publikum mitteilte, dass sie keine Lust habe, immer ein Mädchen zu spielen, das sich so blöd verhalte und dumm sei, mit einem Fremden ohne Weiteres mitzugehen.

Gemeinsam mit den Kindern erörtert die Puppenspielerin, was Karin falsch gemacht hat (Mutter nicht gefragt; niemand weiß bei wem das Mädchen ist). Alternativverhalten wird besprochen und im Anschluss auf der Bühne gespielt. Monika macht es richtig, sie fragt die Mutter, bevor sie zur Nachbarin geht.

Dass der öffentliche Raum ein bedingt geschützter ist und Kinder sich in Gefahr begeben, sobald sie (mit jemand Fremden) diesen verlassen, ohne dass eine Bezugsperson davon Kenntnis hat, ist ein zentraler Punkt der Missbrauchsprävention.

Im Auftrag von Jugendämtern  wurde das Stück »Karin« in vielen Kindergärten aufgeführt. Die Resonanz war positiv – verschaffte es einem dunklen Teil der Wirklichkeit eine Bühne und nötigte alle, die es ansahen, sich mit dem Thema Missbrauch auseinander zu setzen. Das Puppenspiel »Karin« war damals innovativ und auffallend konfrontativ und meines Erachtens Vorreiter der Bewegungen zur Stärkung der Kinder gegen Gewalt und Missbrauch.

Als Jugendliche hat mich das Thema damals nicht besonders interessiert, dennoch erinnere ich mich, wie mich die Betroffenheit, die Sprachlosigkeit der Kinder damals berührt hat. Auch konnte ich als Tochter die besondere mentale Anstrengung wahrnehmen, die die Aufführung dieses Stücks den Eltern stets abverlangte. Die Stimmung, in der die Eltern von den Aufführungen nach Hause kamen, war anders. Still, tendenziell wortkarg, saßen sie beide beim Abendessen. Ihre Gesichter wirkten nicht nur ernster als sonst – sondern so, als sei das, was sie beschäftigte, nicht besprechbar.

Auch wenn die Eltern sich zu jener Zeit nicht (mehr) um die Verführung ihrer Kinder sorgen mussten, so war beiden die Sorge sehr vertraut. Ihre drei kleinen Kieselsteine wurden stets ermahnt, immer erst die Eltern zu fragen, bevor sie den verabredeten »Spielort« verließen. Die Parole lautete: Mit keinem Fremden mitgehen, von keinem Fremden jemals etwas annehmen. Es war die Zeit, in der die Zeitungen von den Verbrechen des Kindermörders Bartsch berichteten, der Kinder entführt und getötet hatte.

Als Mutter teilte ich die Sorgen um mein Kindergarten- und Schulkind, das in einer sexuell freizügigeren, vermeintlich aufgeklärten Welt heranwuchs, leider oder gerade daher von Missbrauch, Verführung oder gar Kindesentführung nicht weniger gefährdet war als Generationen von Kindern zuvor.

Während ich an diesem Beitrag schreibe, fällt mir eine Anzeige des Vereins »Dunkelziffer e. V.« aus Hamburg in meiner Tageszeitung auf. Darin heißt es »Wir machen Kinder stark – Hilfe für sexuell missbrauchte Kinder.«