Vera Kieselstein | 10. September 2013

Lieber Opa

Lieber Opa,

heute wärst du 83 Jahre alt geworden und, wie soll ich sagen, leider hast du es nicht mehr geschafft dieses Fest deines Geburtstages mit zu erleben. Was ich hier und heut noch sagen möchte, habe ich leider nicht geschafft dir lebend zu sagen.

Als mir deine Frau und deine Tochter Susanne erzählten, dass du an dem Freitag, einen Tag bevor du die Welt verlassen hast, noch mal nach mir gefragt hast, ist mir eines bewusst geworden: Ich kam leider zu spät um noch die letzten Worte mit dir zu wechseln und dir noch einige schöne Worte für deine Reise mitzugeben. Diese Tatsache ist für mich eine äußerst prekäre. Eines steht fest: es ist eine tiefe Trauer, die sich in mir ausgebreitet hat, und darunter auch einige Vorwürfe, die auf mir lasten. Weißt du, Opa, auch wenn ich dir das nicht mehr sagen kann, möchte ich doch noch hier zu diesem Anlass einige Worte über dich fallen lassen.

Vorerst eine kleine Erinnerung:

Ich erinnere mich noch an den letzten Besuch bei dir und Oma, wir erzählten noch viel, und in meinem Kopf ist immer noch das Bild, wie du aus deinem schwarzen Sessel aufstehst und dir noch ein Bierchen holst, vorher noch mal auf die Toilette gehst, und dich wieder zu mir setzt. Es war eine wirkliche schöne Atmosphäre. Doch was mir jetzt bewusst geworden ist: als ich mich von dir verabschiedet hatte und wieder Richtung Berlin fuhr, habe ich mich ganz normal und in der Annahme, wir sehen uns das nächste Mal wieder, verabschiedet. Doch dass es das letzte Mal war, dass wir uns sahen, war mir nicht bewusst. Jetzt ist es mir bewusst geworden, und dieses Bewusstwerden ist leider auch sehr schmerzhaft. Warum ist das so: Ja, das kann ich gleich sagen, da gibt es noch so viele Kleinigkeiten, die ich dir gerne erzählt hätte … So viele Fragen, Erzählungen und vieles mehr.

Aus Erzählungen weiß ich, dass dein Leben sich verändert hatte, als ich zur Welt kam. Du wurdest Großvater und wolltest mich heran wachsen sehen, und dies ist einer der Gründe warum du mit dem Rauchen aufgehört hast. Hut ab, dass du nach so langer Zeit diese nicht einfache Entscheidung für mich getroffen hast.

Den Einblick in das kreative Denken und Schaffen von dir gewann ich schnell, und dennoch konnte ich mich als Kind nicht so recht für das Puppenspiel begeistern. Erst nach Ende der Pubertät, diesem ganzen körperlichen Durcheinander, bemerkte ich eigentlich, was mein Opa dort alles aufgebaut hatte. Es ist, wie soll ich sagen, ein Kunstwerk, ja so würde ich es bezeichnen. Das habe ich im Laufe der Zeit zunehmend geschätzt, und heute bewundere ich einfach nur deine damalige Engagiertheit für das Puppenspiel und deine körperliche Ausdauer. Dass du mit Kindern gut konntest, ist und allen bewusst, und dass du die Gabe hattest, die Kinder mit deinem Puppenspiel zu fesseln, ist bemerkenswert. Natürlich begeisterst du mich auch mit dem Stück: „Wie heißt das Zebra.“

Auch erinnere ich mich an deine Situation als du mich zur Grundschule brachtest. Du hattest damals noch den großen VW-Bus, und ich hatte die Nacht bei euch geschlafen, und am nächsten Tag begann die Schule wieder. Du fuhrst also auf die Autobahn Richtung Essen. Hinten auf der Rückbank ein kleines Mädchen im Alter von 7 Jahren, welches große Angst hatte zu spät zum Unterricht zu kommen. In einer äußersten Ruhe und Gelassenheit erklärtest du mir, dass ich überhaupt keine Angst zu haben brauchte zu spät zu kommen. Doch ganz vertraut habe ich dir noch nicht, wie das bei Kindern nun so mal ist. Also stellte ich weiter die Frage: „Opa, wie lange noch?“ Daraufhin antwortetest du: „Wir sind in 15 Minuten an deiner Schule.“ Damals waren für mich 15 Minuten mindestens 2 Stunden. Doch eines war klar: wir kamen pünktlich. Aus dieser Situation nehme ich eines für mein Leben mit: Deine Ruhe und Gelassenheit, wie du mir die Welt erklärtest. Und genau hier möchte ich anmerken: das habe ich von dir gelernt, und dieses prägt auch meine Persönlichkeit.

Mit zunehmender Zeit und Wechsel der Oberschule, gab es notentechnisch so einige Unklarheiten in meinem Werdegang. Meine Mutter zutiefst besorgt und ich mir der Situation nicht bewusst, höre ich immer wieder die Worte von dir: „Die schafft das schon, lasst sie mal machen, die Vera kriegt das hin.“ Ja, ich habe es hin bekommen und festgestellt: man muss an sich und das was man kann glauben und daran festhalten. Und genau das hast du gemacht, du hast an dich geglaubt und bist deinem Ziel, ein Puppentheater aufzubauen, gefolgt. Danke dir lieber Opa, dass du mich dieses gelehrt hast.

Was mir klar geworden ist: als du am Freitag, als ich noch im Auto auf dem Weg nach Bochum saß, deine Frau und deine Tochter fragtest, als sie dir Tür zu deinem Zimmer im Krankenhaus öffneten: „Und wo ist Vera?“ – dir war bewusst, du wirst uns verlassen, und zwar noch heute. Das ist auch der Grund, warum du mich gerne noch mal gesehen hättest. Du wolltest dich auch noch mal von mir, deinem geliebten Enkelkind, verabschieden. Für mich fühlt es sich so an: ich habe etwas verloren und suche nach dem Verlorenen, doch es ist verloren, wieder finden werde ich es leider nicht.

Was mir dadurch so bewusst geworden ist: sich von Jemanden zu verabschieden, ihn noch mal in den Arm zu nehmen und ihn ganz fest ins eigene Herz zu schließen, war mir bei dir nicht mehr möglich. Doch aus diesem Fehler habe ich eines für mein Leben mitgenommen.

Wir müssen uns von allen Menschen, egal in welcher Beziehung wir zu Ihnen stehen, sei es aus Liebe, aus Freundschaft, aus Ärger, verabschieden können, denn wir wissen nicht, wann wir denjenigen das nächste Mal wieder sehen. Vielleicht morgen, oder in einer Woche, oder vielleicht auch gar nicht. Doch dann können wir an diesen schönen Moment festhalten und uns daran erfreuen.

Und zu guter Letzt hätte ich noch eine letzte Frage an dich:

Wie sieht dein Himmel aus, der jetzt über dir steht, dort wo die Sonne im Sonnenlicht untergeht, und wo fängt er an und wo hört er auf?

Wenn dieser weit genug reicht, dann macht doch das Meer zwischen uns nicht mehr aus, oder?

In diesem Sinne mein lieber Opa, in meinem Herzen wirst du immer sein, und ich denke viel an dich und schicke dir viel Sonne an den Ort wo du auch immer sein wirst, dort wo du vielleicht ganz frei und unbeschwert weiter leben kannst.

Ich bin in Gedanken bei dir. Deine Vera