Jürgen Maaßen | 1. Januar 2013

Dieter Kieselstein

Dieter Kieselstein habe ich schon 1975 auf der Fidena kennengelernt – noch zu Wortelmanns Zeiten. Nicht alle Spielstätten lagen nah beieinander, und so hat er mich mit seinem VW-Bus mitgenommen.

Es war immer sehr interessant, was er zu dem Gesehenen zu sagen hatte. (Damals hatte ich noch gar nicht allzu viele verschiedene Puppentheater live erleben können.) Er hatte eine sehr treffende, knappe Art, die Dinge zu betrachten, und hat mich angeregt, mit „Puppenspieleraugen“ zu sehen.

Wir liefen uns in den darauf folgenden Jahren öfter über den Weg, und ich habe dann auch mehrfach das Vergnügen gehabt, die Kieselsteinschen Spiele zu sehen. So habe ich die Kieselsteine immer als sehr echt und warmherzig spielend erlebt. Es wurde mit gutem Timing gespielt, mit sorgfältig gebauten, sehr gut funktionierenden Figuren. In allen Vorstellungen war immer zu erleben, was eine gelungene Aufführung ausmacht: Es war berührend … und es gab viel zu lachen.

Dieter Kieselstein kam vom Handwerk her. Kein Buchhalter, sondern ein Tüftler … gelernter Dreher – solides Metallhandwerk. So arbeitete er mit Ein-Zehntel-Millimeter-Genauigkeiten. Ungenaue Basteleien waren ihm zuwider. Er hat mal gesagt: „Ich kann in jedem Material arbeiten“ – und das stimmte wirklich. Mit den Schnitzeisen und Holz konnte er ebenso gut umgehen wie mit modernen Schäumen, Formenbau, Gipsmassen und Silikonen. Er tat dies alles mit großem Können und offenbarer Lust.

Ich hatte das Glück seine nicht allzu große, aber äußerst sinnreich ausgestattete Werkstatt ansehen zu dürfen, in der er mir bereitwillig Auskünfte zu meinen Fragen gab, mir Modelle zeigte und sogar eine kleine Figurenschraube zum Händeschnitzen schenkte. Seine Kommentare zu gezeigten Figuren waren knapp, erhellend und haben mich weitergebracht. Er konnte die technischen Gesetzmäßigkeiten des Marionettenbaus sehr anschaulich erklären, wie alle Seminaristen aus seinen Marionettenseminaren wissen. Ich stellte fest, dass ihn im Marionettenbau ähnliche Dinge interessierten, mit denen ich mich auch schon beschäftigt hatte. So z.B. das „doppelte“ Halsgelenk. Er mochte es gar nicht, wenn die mit einem solchen Gelenk ausgestatteten und dabei nicht wirklich korrekt gebauten Figuren, wie er es nannte: „gautschten“. Damit ist gemeint, dass sich beim Absenken erst der Hals mit nach vorn blickendem Kopf absenkt bis er anschlägt, erst dann folgt der Kopf und damit der Blick nach unten. Diese Bewegung wirkt insbesondere bei jugendlichen Figuren alt und rückenleidend. Richtig gebaut senkt sich der Kopf zum Nicken … danach folgt die Absenkung des Halses zur Verstärkung der Bewegung.

Ich erinnere mich noch daran wie er sagte: „Ich hatte dieses Gelenk mal bei jener Figur eingebaut … dann hab ich’s wieder rausgenommen. Das Einzelgelenk war wirkungsvoller, weil genauer steuerbar in der Bewegung, abstrakter und klarer.“

Woran ich mich auch erinnere: Einer seiner Leitsätze aus den Seminaren war: „Man muss für jeden Vorteil (mindestens) einen Nachteil in Kauf nehmen.“ Wie oft habe ich diese Wahrheit beim Figurenbau erlebt!

Seine konstruktive Sorgfalt habe ich immer bewundert und über den Einfallsreichtum seiner Funktionsmodelle habe ich gestaunt. Erst vor kurzem habe ich noch zwei von ihm aus metallenen Drehteilen selbst hergestellte Innenmechaniken für Armführung gesehen. Diese waren wohl für Bärenarme vorgesehen und hätten eine komplette „unsichtbare“ vollbewegliche Führung von der Schulter her ermöglicht. Und dann, so vermute ich, fand er es doch zu unorganisch, zu mechanisch und er hat Giselas Hände für die Lila-Laune-Bärenpfoten vorgezogen.

Gestalterisch sind seinen Figuren der Einfluss und die Lehren seines Meisters Bross deutlich anzusehen. Dessen erste Stilperiode hat Dieter nicht mehr selbst aktiv mitbekommen, so dass er direkt an die Zeichenhaftigkeit der zweiten Stilperiode von Bross anknüpfen konnte.

Angelehnt an die Kriterien des industriellen Designs der späten 50er-Jahre entstanden glattgeschliffene, großflächige formal streng durchgestaltete Köpfe ohne naturalistischen Schnörkel von hoher Weitenwirkung. Mit seinen Menschenfiguren hat Dieter gut gestaltete, bühnenwirksame und bestens funktionierende Darsteller auf die Bühne gebracht, die die formale Qualität seines Meisters Bross erreichten. Mit vielen seiner vorzüglichen Tierfiguren hat er seinen Meister weit übertroffen, hatte viel größere Freiheiten, da Bross auf diesem Gebiet nicht so viel Wesentliches hinterlassen hat. In seinen Tierfiguren sehe ich Dieters absolute Stärke, man braucht nur an die verschiedenen Hunde in „Hund ist Hund“ zu denken oder an sein wunderbares Marionettenpony.

Schon sehr früh entstand eine seiner stärksten Menschenfiguren: sein charakteristischer, moderner, ganz eigener Kasper mit heiterem Kinderausdruck, in dem ich trotz aller kindlichen Ausstrahlung auch eine gewisse Ähnlichkeit mit seinem Schöpfer zu entdecken glaube …

Ich bin froh, dass ein solcher „Kieselsteinkasper“, den er mit einer großartig gebauten Silikonform für sein Theater dupliziert hatte, auf „Umwegen“ durch meinen Freund Ingo Woitke in meine Kaspersammlung geraten ist und mich an ihn erinnert, so oft ich ihn ansehe. Ich werde Dieter, sein Können, seinen Humor, sein Engagement für unsere gemeinsame Sache und seine treffenden Kommentare vermissen.