Andreas Moll | 23. September 2012
Dieter Kieselstein, der Puppenspieler
Als ich Dieter Kieselstein und seine Frau Gisela in den frühen 1980er Jahren in Hamburg kennenlernte, habe ich Dieter als Menschen mit einer sehr großen Klarheit, Aufrichtigkeit und Vision für das Puppenspiel erfahren. Das war in der Zeit, als in Hamburg die Arbeitsgemeinschaft für das Puppenspiel regelmäßige wöchentliche Aufführungen am Sonntag um 11 und 15 Uhr aufgeführt hat, zu denen das Puppentheater Kieselstein gerne eingeladen wurde.

Abb. 1a: Der Autor zuhörend rechts hinten im Theorie-Teil mit Ausführungen von Dieter Kieselstein an der Tafel (Marionetten-Aufbauseminar, 2.–6. Feb. 1981, in den Werkstätten von Peter Röders, Kiel)
Zu Dieter hatte ich in dieser Zeit eine starke Beziehung aufgebaut, weil – so glaube ich jetzt – als dann mein Vater 1982 verstarb, ich in ihm eine Vaterfigur hatte, die mir Leitung, Führung und Wegweisung geben konnte. Ich habe damals intuitiv erkannt, dass ich in (drei) Puppenbaukursen unter der Leitung von Dieter mich erstens über jeweils eine Woche im Puppenbau fortbilden konnte und zweitens auch über eine Woche mit ihm eng zusammen sein konnte.
In diesen Kursen war ich jedes Mal stark gefordert. Aber gleichzeitig emotional sehr gut aufgehoben, nämlich in der Aura von fachlichen und menschlichen Führungsqualitäten. Es war eine „rundum“-Betreuung. Einerseits die mechanische Kunst Marionetten zu schnitzen und zu bauen, andererseits die mentale Einstellung zum Handwerk, zum Spiel mit Puppen und zur Professionalität als Berufspuppenspieler. Dieters ständiger Wunsch, exzellente Arbeit zu machen, den Wunsch, die Figuren so zu erschaffen, dass sie einwandfrei ihre Funktion erfüllen, das war eine Herausforderung an den Studenten, den Puppenspielamateur und mich, den Menschen. Zum Beispiel im Bereich als Marionettenführer, nämlich alle Bewegungen, die wir der Marionette eingebaut haben, jetzt im Spiel mit den Ausdrucksformen umzusetzen. Damit wir die grundlegenden Gehmöglichkeiten einer Marionette, einem gekoppelten Pendel, ausnutzen konnten, hatte Dieter den River Kwai Marsch als Musikhintergrund gewählt. Und wir sind (gefühlte) Kilometer mit den Marionetten im Atelier von Peter Röders gelaufen, bis wir das Gefühl im Arm und in der Hand und in den Fingern entwickelt hatten.
Bei solchen Kursen in Kiel fühlte ich mich verschmolzen mit Dieter, und es entstand eine so tiefe Freundschaft, dass er mich auch zu sich nach Hause und in seine Werkstatt nach Bochum eingeladen hat. So habe ich mit der Bahn einige Pilgerfahrten nach Bochum gemacht. Durfte bei den Kieselsteinen übernachten und habe auf diese Weise seine Frau Gisela und die erwachsenen Kinder der Familie, Gila, Susanne und Benno, kennengelernt. Im Hause habe ich mich schnell an den vorgegebenen Rhythmus angepasst. Alles erfolgte nach einem klaren Plan – für mich zu der Zeit genau das Richtige. Es hat mir geholfen, Ziele zu finden, Pläne zu machen und meinen Weg zu gehen. Und dafür war und bin ich Dieter und Gisela sehr dankbar. Ich habe es geschafft, diese Stärke von Dieter und Gisela abzugucken und sie für mein Leben anzuwenden. Durch die 24-Stunden Rundumbetreuung hatte ich die nötige mentale Unterstützung. Der Austausch über Gespräche und Einbettung in Lebens-Konzepte, die Möglichkeit, alle naiven Fragen zu stellen und Antworten zu bekommen, von jemandem der eben viel Erfahrung in all den Bereichen hatte, das war es, wie ich die Hilfe bekommen habe, damit ich als Anfänger auf die Beine kam; nämlich klarer zu sehen wohin es gehen kann, wohin ich will im Leben.

Abb. 1b: Der Autor links neben Dieter bei intensiver Diskussion mit ihm als Seminarleiter über die Pendel der Marionette (Marionetten-Aufbauseminar, 2.–6. Feb. 1981, in den Werkstätten von Peter Röders, Kiel)
Zitat(e) aus dem Kurs: „Ich (Dieter Kieselstein) will euch ein Stück führen – dieses Vertrauen müsst Ihr mir entgegenbringen. Das, was ich sage, meine ich grundsätzlich wörtlich. Für diesen Lehrgang ist es besser, nachher mehr im Kopf zu haben, als fertig in der Hand. Deshalb ist es wichtig, alles zu notieren. Und nur Dinge zu machen, die vorzeigbar sind, das erwarte ich auch von euch.“
Mitte der 80er Jahre stand es dann für mich an, eine Entscheidung zu treffen zwischen: Puppenspieler als Beruf oder mein Studium als Geowissenschaftler (Ozeanograph) zu Ende zu machen und als Wissenschaftler an der Universität zu arbeiten. Ich habe mich für den Wissenschaftler entschieden. Konnte aber nicht auf die menschliche Größe von Dieter, auf die Herzlichkeit und familiäre Atmosphäre, die Gisela erschaffen kann, und die Witzigkeit und Spritzigkeit, die die Töchter erzeugen können, sowie die Belesenheit des Sohnes, verzichten. Deshalb habe ich Kontakt gehalten und wurde zu großen Feiern eingeladen. Und ich bin gerne gekommen. Stilvoll eine große Feier zu machen und groß anzulegen, habe ich bei den Kieselsteinen gelernt, und dass man es macht, weil man es so will.
Ja und dann haben sich die Abstände vergrößert zu denen wir uns gesehen haben. Ein besonders schönes Ereignis fand 1995 statt, als ich zum Segeln ans holländische Binnenmeer auf den Campingplatz eingeladen wurde. Bei diesem Besuch hat sich für mich gezeigt, dass die Beziehung sich weiter entwickelt hat. Aus dem Meister, den ich bewundert habe, wurde ein Freund, und eine Zugehörigkeit zu einer Familie, in der ich als Wissenschaftler und Freund akzeptiert wurde. Obwohl wir wegen des Wetters nicht zum Segeln gekommen sind, sind wir uns in den Gesprächen menschlich so Nahe gekommen, dass man nach 10 Jahren einfach so sagen konnte, wo ich mit meiner Entwicklung als Mensch, mit meinen Gefühlen und Wünschen, jetzt stehe. In diesem Gespräch haben wir viel von einander und über einander erfahren, nämlich was in den Jahren des Nicht-Sehens passiert ist. Ganz besonders genossen habe ich auf diesem Ausflug in die Welt des Campingplatzes, die herzliche Aufnahme in den Kreis der Familie der Tochter Gisela, mit eigenem Wohnwagen. Was mir wiederum gezeigt hat, was wahre, echte Herzlichkeit und Freundschaft ist. Diese Erkenntnis, und einige andere vorher, habe ich allerdings erst jetzt, beim Aufschreiben, realisiert.
Als ich im März 2012 von Ingo Woitke gefragt wurde, meine Begebenheiten, Gefühle und Erfahrungen, meine Sichtweise mit und von und über Dieter mitzuteilen, habe ich dies mit Freude angenommen. Eine Ehrung zum 84. Geburtstag von Dieter, darauf freue ich mich besonders und vor allem, da ich mit meiner Geschichte dazu beitragen kann, dass ein Buch entsteht, in dem „alles“ festgehalten ist; von seinen Freunden selber.
In Liebe und Herzlichkeit, Dein Freund Andreas

Foto 2a: Der Autor im November 2010 mit der neuen Technik (auch) zum Fotografieren und der Freude eines Kindes daran, die über viele Jahrzehnte schon anhält
