Bernhard Wöller | 23. September 2012

Dieter Kieselstein und der „Verband Deutscher Puppentheater“ e.V.

Es ist nicht einfach, über einen Kollegen zu schreiben. Aber in diesem Fall mache ich es gern, erstens weil ich Dieter Kieselstein sehr schätze und zweitens weil es die Gelegenheit bietet, ein Stück der Geschichte des Verbandes (damals noch Verband „Deutsche Puppentheater“ e.V.) festzuhalten.

Dieter Kieselstein war von Anfang an dabei – schon bei der Gründung 1968 und dann in den ersten 10 schwierigen Jahren. 1976 wurde er schon mal zum Vorsitzenden gewählt, was ihm aber nicht so lag, weil das Repräsentieren nicht so seine Sache war. Und wegen Befangenheit bei den Verhandlungen mit dem Deutschen Institut für Puppenspiel (DIP) in Bochum gab er 1977 das Amt zurück. Aber 1983 war er bereit, das nicht weniger schwierige und arbeitsintensive Amt des Geschäftsführers zu übernehmen. Obwohl er erstmal erschüttert war über die Berge von Aktenordnern, die ihm sein Vorgänger Dieter Brunner übergab, machte er sich sehr schnell mit der Sache vertraut und legte los: da wurden neue Mitglieder gesucht und gewonnen, Listen erstellt, die den bisherigen Weg des Verbandes übersichtlicher machten, und kulturpolitische Weichen gestellt.

Zusammen mit Martha Stocker hat er dann den VDP zum Mitglied im „Deutschen Kulturrat“ gemacht, und er wurde im Herbst desselben Jahres zum Gründungsmitglied vom „Fonds Darstellende Künste“. Bei der Gründungs-Versammlung wollten die Vertreter der anderen Verbände die Klassifizierung der Enquete-Kommission des Bundestages zugrunde legen. Diese Kommission hatte ca. 1970 die Künstler in verschiedene Sparten eingeteilt, und dabei ist das Puppentheater in die Sparte Zauberkünstler, Taschenspieler und Bärentreiber geraten. Mit Mut und Überzeugungskraft erreichte Dieter Kieselstein die Einordnung des Puppentheaters in die Gruppe der Theater – eine Entscheidung, die erst in der Zukunft so recht ihre Früchte zeigte, vor allem bei der Vergabe von öffentlichen Geldern, z.B. im Fonds Darstellende Künste, in dem Dieter Kieselstein dann noch bis 1996 den VDP vertreten hat. Das Beharren darauf, dass Puppentheater selbstverständlich Theater ist und anderen Theaterformen gleichzustellen ist, war in jenen Jahren immer wieder notwendig. Ich habe das als Vorstandskollege (Beisitzer und Kassier) sehr genau miterlebt. Und erst heute setzt sich der Gedanke der Gleichwertigkeit und Gleichstellung allmählich durch.

Für den Verband kamen 1986 schwierige Jahre. Peter Steinmann, Tillmann Harte und Barbara Scheel übernahmen die Vorstandsarbeit. Aber ihre Zusammenarbeit klappte überhaupt nicht, so dass fast nichts passierte. Das führte bei der Versammlung 1987 natürlich zu scharfer Kritik, mit dem Ergebnis, dass am Ende nur ein Trümmerhaufen übrig blieb. Doch dann ging man an den Wiederaufbau: Martha Stocker übernahm wieder den Vorsitz, Heinz-Peter Schmälter die Geschäftsführung, ich war wieder Beisitzer und Kassier. Heinz-Peter war aber offenbar von seiner Aufgabe ziemlich überfordert und Martha schon recht krank. Der Verband dümpelte vor sich hin. Ich habe in diesem Jahr sehr gelitten, konnte aber als Beisitzer nur sehr bedingt helfen, denn die Entscheidungen und Impulse mussten vom Vorsitzenden und Geschäftsführer ausgehen. Als Martha Stocker dann im Dezember 1987 starb, brach alles zusammen. Um ein bisschen Kontinuität im Vorstand zu wahren, planten wir, dass ich den Vorsitz übernehmen sollte und Heinz-Peter Schmälter weiter die Geschäftsführung machte. Heinz-Peter war aber von Marthas Tod so geschockt, dass er zu gar nichts fähig war, überhaupt nicht erschien und nicht zu sprechen war. Ich meinerseits war über dieses Verhalten von Heinz-Peter derart verärgert, dass auch ich meinen Rückzug erklärte.

Nun war die Pleite perfekt und die Auflösung des Verbandes in Sicht. Wieder waren es junge Miglieder, die Dieter Kieselstein aufforderten, etwas zu unternehmen. Und er wurde aktiv – nicht mit großen „Reden an mein Volk“, sondern mit vielen Einzelgesprächen reihum unter den Anwesenden. So ging der erste Tag der Versammlung, an dem normalerweise der neue Vorstand gewählt werden sollte, dahin, und kein neuer Vorstand war in Sicht. Traurig und ratlos gingen wir in die Abendvorstellung und dann zum gemütlichen Teil, der aber nicht sehr gemütlich war, weil keiner wusste, wie es weitergehen sollte.

Da kam Kieselstein zu mir und hatte einen Plan: Dorothee Wellfonder (und Wolfgang Kaup) hatten signalisiert, dass sie eventuell bereit wären, die Geschäftsführung zu übernehmen. Wir wollten aber, dass da unbedingt einer aus der „alten“ Garde als Vorsitzender dazu sollte. Kieselstein redete auf mich ein, aber ich blieb stur. Dann schlug er vor, dass Steinmann, Kieselstein und Wöller gemeinsam in den Vorstand gehen sollten, um die jungen „Wodo“-Pferde ein bisschen im Zaum zu halten. So schön, so gut! Aber Steinmann war wegen meiner Manöver-Kritik an ihm ziemlich sauer auf mich. Wie sollte das gehen? Zudem war er bereits ins Bett gegangen. Kieselstein: Das hilft nichts – den holen wir raus! Also zogen Kieselstein und ich zu Peter ins Zimmer. Wir glätteten erstmal die Wogen und schmiedeten dann am Kieselstein-Plan weiter. Das Ergebnis war ein Vorstand aus Dieter Kieselstein als Vorsitzendem, Dorothee Wellfonder als Geschäftsführerin, Bernhard Wöller als 1. Beisitzer und Kassier, Peter Steinmann als 2. Beisitzer. Dieter machte aber außerdem zur Bedingung, dass von diesem Vorstand nur einstimmige Beschlüsse gefasst werden dürften. Vier Leute – und nur einstimmig? Ich war skeptisch, ob das wohl gut ging. Aber es klappte. Die 3 Alten konnten die junge Frau nie überstimmen. Und damit hat der Verband dann 4 Jahre gut arbeiten können. Er war gerettet, dank der Initiative von Dieter Kieselstein.

Eine ähnliche Situation ergab sich 1999. Die Vorstände der beiden vorangegangenen Jahre hatten nicht gut gearbeitet. Die Kasse war durcheinander, und ausstehende Beiträge waren nicht eingefordert worden. Hinzu kam, dass Anton Kasper, der sich bereit erklärt hatte, den Vorsitz zu übernehmen, überraschend im Herbst 1998 starb. Er hatte bei sich auch die Jahreshauptversammlung durchführen wollen. Daraus wurde nun nichts, und der alte Vorstand zeigte sich ratlos, wie er mit dieser Situation umgehen sollte: keine Versammlung und kein neuer Vorstand. Die noch amtierende Vorsitzende befürchtete Krach und bat Dieter telefonisch, die Sache in die Hand zu nehmen, was er natürlich tat.

Zum Glück boten sich die Kasseler Kollegen Marianne Schoppan und Jörg Dreismann an, kurzfristig eine Tagung durchzuführen – ohne Beiprogramm. So geschah es, und die Versammlung konnte wenigstens stattfinden. Hier gab es aber nun heftige Kritik an den alten Vorständen – und ich bekenne: auch von mir. Das führte dazu, dass es bei der Suche nach einem neuen Vorstand große Zurückhaltung gab, besser gesagt: es gab niemanden, der sich für die Ämter bereit finden wollte. Ratlosigkeit machte sich breit und mündete in der Erkenntnis, dass man den Verein am besten auflösen sollte – nach 30 Jahren!? Diese Frage wurde allen Ernstes heftig diskutiert.

Hier war es nun wieder Dieter Kieselstein, der erklärte: „Jetzt bin ich den Hick-Hack leid! Ich war bei der Geburt des VDP dabei und will nun die Beerdigung hinter mich bringen.“ (Ich glaube so ähnlich ist es wortwörtlich gewesen.) Und nüchtern und hart wie es die Situation eben erforderte, holte er den entsprechenden Paragraphen des Vereinsrechts hervor und erläuterte, wie eine solche Auflösung ablaufen müsste: Beendigung der augenblicklichen Versammlung und innerhalb von 6 Wochen die Einberufung einer außerordentlichen Versammlung, die dann mit einfacher Mehrheit der Anwesenden über die Auflösung entscheiden könnte. Das war starker Tobak! Bei der Struktur unseres Verbandes mit Migliedern, die über ganz Deutschland verstreut sind, hätte das bedeutet, dass dann ein paar wenige, die vielleicht gerade Zeit hatten und in der Nähe wohnten, über das Schicksal des Verbandes entscheiden und die ganze lange, z.T. mühevolle 30-jährige Aufbauarbeit beenden sollten. Niemand sonst außer Dieter Kieselstein konnte den Kollegen das so drastisch vor Augen führen. Es erschütterte die Anwesenden doch sehr, und mit hängenden Köpfen wollte man dann doch erstmal in die Mittagspause gehen.

Und siehe da: nach der Mittagspause hatten einige den Kopf wieder etwas angehoben und boten eine Lösung an. Jörg Dreismann, Marianne Schoppan und Andreas Wahler wollten provisorisch für ein Jahr die Vorstandsarbeit übernehmen, zwar mit eingeschränktem Zeitkontingent, aber doch so, dass es weitergehen konnte. Da wurde nicht mehr lange diskutiert über Eignung und Fähigkeiten – man war froh, dass die Krise fürs Erste überstanden war. Es ging in diesem Jahr ja vor allem um die Vorbereitung auf den Weltkongress der UNIMA 2000 in Magdeburg, wo der Verband sich in irgendeiner Weise präsentieren wollte. Marianne gab zwar nach einem Jahr das Amt der Geschäftsführerin wieder ab, blieb aber als 2. Beisitzerin noch ein weiteres Jahr im Vorstand, um vor allem die Aktionen in Magdeburg noch begleiten zu können. Das VDP-Zelt mit allem, was darin geschah, war eine große Attraktion. Marianne und Jörg, zusammen mit einigen anderen, haben hier Großartiges geleistet. Jörg hatte durch diese Arbeit Gefallen gefunden an der Vorstandsarbeit und blieb dann ganze 7 Jahre Vorsitzender! So hat also auch diese Krise dank der aufrüttelnden Initiative von Dieter Kieselstein ein glückliches Ende gefunden.

Da ich selbst viele Jahre im Vorstand des Verbandes mitwirkte, und u.a. 10 Jahre lang die Kasse geführt habe, hatte ich immer wieder mit Dieter Kieselstein zu tun. Und wir haben viel und gut zusammen gearbeitet. Wir haben uns von Anfang an gut verstanden. In der klaren, mitunter harten Art Probleme anzusprechen sind wir uns ähnlich. Man redet nicht lange um den Brei herum, sondern geht direkt darauf zu. Das macht viele Dinge einfacher und führt schneller zu Lösungen. Das ist mir sehr sympathisch, und es führte dazu, dass wir sehr bald Freunde wurden. So war es eigentlich auch ganz natürlich, dass ich Gisela und Dieter einmal im Urlaub auf Ihrem Campingplatz an einem See in Holland besuchte, um mit ihnen zu segeln, zu surfen, zu grillen usw. Und natürlich viel zu klöhnen. Es sind schöne Tage gewesen.

Für den Verband ist Dieter Kieselstein eine herausragende und wichtige Persönlichkeit, die Dank und Anerkennung verdient. So wurde er auch zu Recht 1998 zum Ehrenmitglied ernannt. Ich selbst bin froh und dankbar, dass ich ihn kennengelernt habe und mit ihm arbeiten durfte.