Stephan Wunsch | 26. Oktober 2012
Bohrung und Millimeterpapier
Das, was man nach Einsatz eines Bohrers in einem Werkstück hinterlässt, heißt nicht Loch, sondern Bohrung. Das weiß ich seit etwa zwölf Jahren, und ich verdanke diese Einsicht einem Kurs bei Dieter Kieselstein. Als zentrales Resultat eines einwöchigen Seminars scheint sie vielleicht etwas dünn, und zweifellos habe ich weitaus mehr und auch Repräsentativeres dort gelernt; dennoch steht sie pars pro toto für eine Seite der Figurentheaterkunst, die ich bis dahin nicht recht zur Kenntnis genommen hatte.
Dieters Marionettenbauseminar war nicht mein erster Warmsen-Kurs gewesen, sondern genau genommen mein zweiter; und beim ersten hatte ich Figurentheater-Neuling erfahren, dass die Welt des Figurenbauens über mindestens ein echtes Genie verfügte – entsprechend inspiriert kehrte ich zurück. Würde es nun so weitergehen? Nein. Die Kurswoche hatte das Ziel, eine „Laufmaschine“, also eine Marionette ohne Arme, mit nur angedeutetem Kopf hervorzubringen, die eigentlich nur laufen konnte – das aber möglichst perfekt. Dafür wurden Aluminiumbolzen gefeilt und Kugellagerkugeln poliert. Arbeitsblätter mit Hebelgesetzen und Pendelgesetzen wurden verteilt; Kopien von Schemazeichnungen erschienen, auf denen das Millimeterpapier noch durchschimmerte. Physik statt Kunst. Ja, es wurde viel von den Teilnehmern verlangt: Längen und Durchmesser sollte man grundsätzlich immer in Millimetern angeben. Man sollte das richtige Werkzeug verwenden und nicht das falsche, und vor dem Wechseln des Werkstücks sollte man die Tischbohrmaschine ausstellen. Überhaupt wurde klar, dass man ohne Tischbohrmaschine eigentlich nicht existieren konnte, wenn man auch sonst nichts besaß. – Das alles erschien mir nützlich, aber nicht allzu inspirierend.
Als aber die entstehende Laufmaschine einen Brustkorb aus Styrodur brauchte, schien meine Stunde gekommen: ich feilte mit Hingabe einen Brustkorb, in dem ich anatomische Richtigkeit mit anmutiger Stilisierung zu verbinden suchte … und zeigte das Ergebnis stolz Dieter und fragte: Ist es so gut? – Und Dieter antwortete aus dem Augenwinkel: So kann mans machen. Die Antwort schien meine künstlerische Leistung nicht angemessen zu würdigen, und ich wiederholte die Frage – so wie Dieter seine Antwort, nun aber mit Nachdruck. Als ich tatsächlich ein drittes Mal fragte, lachte Dieter nur.
Wieso merkt man sich so eine Lappalie? Weil sie die banale, uralte, tausendmal bekräftigte Weisheit variiert, dass vor der Inspiration die Transpiration, Kunst ist schön macht aber viel Arbeit usw. – eine Weisheit, für die man nicht unbedingt Dieter Kieselstein hätte bemühen müssen. Vielleicht ist es aber so, dass man einer unleugbaren Einsicht erst leibhaftig begegnen muss, um sie sich zu eigen zu machen; der Leib jedenfalls, in dem diese Einsicht mir entgegentrat, war der von Dieter Kieselstein. Wenn ich auch bis heute nie eine Marionette nach Dieters Rezept begonnen habe: An sein handwerkliches Ethos werde ich oft erinnert.
Jahre später – ich hatte nie wieder einen Bohrer abgebrochen, besaß zwar längst eine Tischbohrmaschine, aber noch immer kein Millimeterpapier – planten wir in der DaT-Redaktion ein Themenheft zur Marionette. Schöne Beiträge waren geplant, akquiriert und teils schon geliefert: zu Ästhetik, Philosophie, Geschichte, Sprache … aber etwas fehlte mir noch. Unter all dem Schöngeistigen vermisste ich so etwas wie Hebelgesetze auf Millimeterpapier.
Ich rief Dieter an. Der reagierte etwas erfreut und dreiviertel mürrisch. Eine Bauanleitung? Für die Zeitschrift? Zu komplex. Zu wenig Platz. Thema zu groß. – Zum Glück war ich darauf gefasst: Dass man Dieters gesammelte Einsichten zum Marionettenbau nicht auf ein paar Zeitschriftenseiten quetschen konnte, war mir klar. Neinnein, ich wollte was anderes. Dieter sollte nicht einzelne Arbeitsschritte beschreiben, sondern in seine Art zu denken einführen. Ich wollte von ihm das aufgeschrieben haben, was man verstanden haben muss, um eine gut funktionierende Marionette zu bauen. Die Grundlagen, nicht die Details. Sowas wie Hebelgesetze auf Millimeterpapier. Hmm? – Ein langes Schweigen am anderen Ende stimmte mich optimistisch. Und Dieter sagte verhalten zu, leise kichernd.
Nach gar nicht langer Zeit kam ein Text, per Mail. Der Text sei leider viel zu lang, hieß es im Begleitschreiben. Wir sollten nur nach Belieben kürzen; er habe sich nun mal nicht knapper fassen können. Schon beim ersten Querlesen ahnte ich: das mit dem Kürzen würde schwierig. Hier hatte sich jemand, der sehr viel zu sagen hatte, bereits um die größtmögliche Verdichtung bemüht – wer sollte da noch um halbe Nebensätze feilschen? Nein, wenn man diesen Text annahm, musste man ihn nehmen, wie er war. Nebenher musste man sagen, dass der Beitrag ausgesprochen gut geschrieben war: Ohne überflüssige Ausschweifungen, klar und deutlich. Auffällig war der Bezug auf Kleist: Den berühmten Text über das Marionettentheater, über den Generationen von Germanisten Tiefsinniges zu sagen wussten, erlaubte sich der Dreher Kieselstein als Bastelanleitung zu lesen, und siehe da: er konnte dem Kollegen Kleist nur beipflichten. Ich verschickte den Beitrag an die Redaktionskollegen; niemand empfand ihn als zu lang. Und so erschien er dann.
Wieder einige Zeit später hatte ich ein Gastspiel in Gelsenkirchen. Nach dem Auftritt kam plötzlich Dieter auf mich zu; er hatte sich mein Stück unangemeldet angesehen und teilte mir gleich einige kritisch-wohlwollende Bemerkungen mit (von denen ich sogar eine später wirklich praktisch umsetzte). Dann aber kann er auf den Aufsatz zu sprechen und sagte mit Verschwörerblick: Die haben ja gar nichts gekürzt! Wieder ein leises Kichern. Ich dachte, die streichen mir die Hälfte, aber da fehlt ja nix! – Jaja wollte ich gerade sagen, das war auch ein wirklich schöner … – aber das interessierte Dieter nicht. Die haben nichts gestrichen! wiederholte er. Seine diebische Freude verriet: Genau das war sei Ziel gewesen: keinen überflüssigen Satz zu schreiben.
Allen, die heute das Buch vermissen, das Dieter leider nie geschrieben hat, sei dieser Aufsatz (Das andere Theater, H. 66/67) empfohlen. Er beginnt so:
„Ich werde oft nach dem Geheimnis der Marionette gefragt und muss immer antworten: Die Marionette hat kein Geheimnis. Sie folgt den Gesetzen der Mechanik […].“